Es ist einem konzeptionellen Fehler geschuldet, dass die sensorische Charakteristik eines Olivenöls von Panels und vor allem von Olivenölwettbewerben notorisch mit der sensorischen Leistung oder Kapazität verwechselt wird. Olivenöl ist nämlich ein Würzmittel, dessen sensorische Rolle nicht abseits seiner naturgegebenen Bestimmung, sprich in Kombination mit einem Gericht, beurteilt werden sollte.
Wenn wir von Würzmitteln sprechen, müssen wir uns eingestehen, dass der Zweck eines solchen die positive geschmackliche Veränderung eines Gerichtes ist.
All jene Olivenölwettbewerbe und -Ausscheidungen, welche die Güte der Olivenöle anhand von puren Verkostungen, im Fachjargon "Tasting" genannt, bestimmen, erliegen einem grossen Missverständnis. Denn, die Olivenöle, die in solchen Wettbewerben und Ausscheidungen jeweils prämiert werden, sind jene, welche von den Jurymitgliedern als am harmonischsten beurteilt werden, dabei geht ganz in Vergessenheit, dass sich die sensorischen Attribute eines Olivenöls verändern, sobald es mit einem Gericht oder einem weiteren Lebensmittel - egal welcher Art - verpaart wird. Die Tatsache, dass Olivenöl nicht pur getrunken, sondern jeweils über ein Gericht geträufelt wird, verlangt quasi, dass das Olivenöl ausgeprägte Attribute aufweist und nicht harmonisch ist - zumindest teilweise.
Wenn wir von Würzmitteln sprechen, müssen wir uns eingestehen, dass der Zweck eines solchen die positive geschmackliche Veränderung eines Gerichtes ist. Wir verwenden Salz, Pfeffer oder Zucker, um ein Gericht insgesamt besser und schmackhafter zu machen. Es käme uns aber nie in den Sinn, zu sagen, das Salz sei zu salzig, der Zucker sei zu süss oder die Paprika sei zu scharf. Im Gegenzug können wir dafür sehr wohl sagen, ein Gericht sei zu salzig, was vornehmlich dann der Fall ist, wenn wir dieses mit zu viel Salz gewürzt haben.
Natürlich können wir nun argumentieren und behaupten, es gäbe unterschiedlichen Zucker oder unterschiedliches Salz, etwa solches, das wir als salziger oder weniger salzig empfinden, besser oder schlechter ist aber per se keines. Zumindest nicht, wenn wir die Beurteilung alleine auf den sensorischen Parameter "Harmonie" abstellen. Folglich ist es auch falsch, zu sagen, ein harmonisches Olivenöl sei besser als ein ausgeprägt bitteres oder scharfes Olivenöl.
Harmonie beim Olivenöl ist zu einem wichtigen Erfolgsfaktor geworden
"In Germany it's all about harmony" titelte jüngst das Branchenblatt Olive Oil Times und berichtete über den von den Deutschen Annette Bongartz und Dieter Oberg im Jahr 2011 in die Olivenölsensorik eingeführten Parameter "Harmony". Seit 2015 ist der "Harmonie-Parameter" in Deutschland behördlich offiziell zugelassen. Je höher der Harmonie-Wert, desto besser das Olivenöl. Auch der weltweit grösste Olivenölwettbewerb, die New York International Olive Oil Competition, bedient sich dieses Parameters. "Harmony" bedeutet in der New Yorker Ausscheidung so viel wie "angenehme Kombination von Fruchtigkeit, Bitterkeit und Schärfe" und hat einen bedeutenden Einfluss auf die Punktevergabe. Folglich kommen in New York vornehmlich harmonische Olivenöle in die Ränge. Man spricht in Anlehnung an den amerikanischen Weinjournalisten Robert Parker, der eine Vorliebe für in Holz ausgebaute Weine hat, nun auch von einer "Verparkerisierung des Olivenöls". Alle Öle sollen möglichst harmonisch sein.
Der Zweck des von Bongartz und Oberg eingeführten Harmonie-Parameters war damals jener der Unterscheidung der Qualitätsstufen "schlecht, durchschnittlich, gut, sehr gut und Premium" innerhalb der rechtlich geschützten Kategorie "Extra Vergine", da es ihrer Auffassung nach unter "Extra Vergine" sowohl bloss fehlerfreie, einfache native Olivenöle als auch sensorisch hervorragende Olivenöle zu verzeichnen gab, für deren Auseinanderhaltung aber ein einfacher Beschreiber gefehlt hatte. Vor der Einführung des umstrittenen aber in Deutschland wie auch in der Schweiz bedeutenden Parameters, waren gemäss Oberg 50 % der von Discountern beim Deutschen Olivenöl Panel zur sensorischen Kontrolle angestellten Olivenölproben fehlerhaft. So soll sich die Qualität der zwischen 2013 und 2017 vom Deutschen Olivenöl Panel getesteten 2700 Olivenölproben deutlich verbessert haben. Grosse deutsche Handelsketten sollen heute deutsche Olivenölexperten nach Unterstützung fragen, um Benchmark-Olivenöle zu kreieren, die den Abfüllern und Produzenten von Olivenöl als Vorlage gelten sollen. Folglich werden die Olivenöle nicht besser aber dafür harmonischer. Oberg legt den anderen Ländern Europas nun nahe, den Harmonie-Parameter ebenfalls als offizielles Bewertungskriterium festzulegen.
Harmonischer, aber keineswegs besser
Trotz des Harmonie-Parameters, welcher in der Vergangenheit in Deutschland und in der Schweiz Anwendung gefunden hatte, wurden die im Einzelhandel erhältlichen Olivenöle in Punkto Sensorik nicht besser. Im Mai 2016 etwa schnitten beim sensorischen Olivenöltest der Schweizer Konsumentensendung Kassensturz neun von sechzehn Olivenölen mit der Note "ungenügend" ab. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Die Öle waren deutlich zu schlecht, um Extra Vergine genannt werden zu dürfen. Die sensorische Beurteilung wurde damals durch das von Annette Bongartz geleitete Schweizer Olivenöl Panel (SOP) vorgenommen. Ich konnte mir zudem in diesem Frühling in Deutschland in einem Olivenöl Panel persönlich ein Bild der Qualität jener Olivenöle machen, die für den deutschen Markt vorgesehen sind. Zwar habe ich dabei weder Marken gesehen, noch Namen gehört, dafür umso intensiver an verschiedenen Ölmustern geschnuppert und genippt. Was ich empfand, war keinesfalls befriedigend. Es handelte sich bei den meisten Proben um aus meiner Beurteilung deutlich fehlerhafte Olivenöle. Das deckt sich mit dem Angebot, welches wir heute im Einzelhandel vorfinden. Der grösste Teil der als Extra Vergine angebotenen Olivenöle ist von ungenügender Qualität. Sprich, es handelt sich in 98 % der Fälle um Etikettenschwindel. Trotz Harmonie-Parameter.
Richtiger Ansatz der deutschen Panelleiter
Im Grundsatz ist Bongartz' und Obergs Gedanke eigentlich richtig. Ein einfaches, preislich günstiges Extra Vergine Olivenöl ist, wenn man die blosse Produktqualität betrachtet, nicht gleich gut wie ein sehr gutes, meist hochpreisiges Extra Vergine Olivenöl. Auf dem Produktetikett erkennt man aber keinen Unterschied. Und auch die Verkostungsleitlinien der EU und des Internationalen Oliven Rates lassen nach Auffassung Bongartz' und Obergs keine wesentliche Unterscheidung der beiden Öle zu. Genau hier soll der von ihnen eingeführte Harmonie-Parameter den Unterschied eindeutig sichtbar und auch quantifizierbar machen.
Native Olivenöle (extra) können nach Bongartz' und Obergs Konzept (aktueller Stand) in die folgenden sieben Harmonie-Kategorien klassifiziert oder eingeteilt werden:
Bei detaillierter Betrachtungsweise des oben gezeigten Bewertungsschemas, stellt man fest, dass dieses sich von jenem, welches an der New York International Olive Oil Competition zum Einsatz kommt, erheblich unterscheidet. Während der von Curtis Cord geleitete Wettbewerb in Übersee mit seinem "Harmonie-Parameter" gemäss eigenen Angaben (siehe oben und Grafik unten) lediglich die Ausgeglichenheit oder das Verhältnis der positiven Attribute "Fruchtigkeit, Bitterkeit und Schärfe" zueinander bewertet, geht das Harmonie-Schema von Bongartz und Oberg deutlich weiter. Es dient der Quantifizierung von wahrnehmbaren positiven sensorischen Attributen. So wird ein natives Olivenöl, welches einen Harmonie-Wert von 5.5 bis 6.4 erreicht und entsprechend als "hoch" eingestuft wird, als "vielfältig im Aromenspektrum sowie komplexer im Aromaprofil" beschrieben. In der nächst höher gelegenen Stufe "sehr hoch", die von 6.5 bis 7.4 Harmonie-Punkten reicht, werden die Olivenöle "als komplex im Aromaprofil und ausgesprochen harmonisch sowie langanhaltend" charakterisiert. Einem Öl, welches hingegen nur 2.5 bis 3.4 Harmonie-Punkte erreicht und somit als "sehr tief" klassifiziert wird, wird angelastet, es "präsentiere unharmonische und auch negative Aromen-Aspekte".
Die hohe Wichtigkeit von exakten Beschreibern
Trotz detaillierter Erklärung, was die Leiterin des Schweizer Olivenöl Panels und der ehemalige Leiter des Deutschen Olivenöl Panels unter dem "Harmonie-Wert" verstehen, ist es mir nicht genau schlüssig, warum für die Quantifizierung von im Olivenöl feststellbaren Düften, Aromen und Reizen der Geschmacksknospen ein neuer Parameter geschaffen wurde, der die Gesamtheit numerisch abbilden soll? Je mehr wahrnehmbare positive Attribute, desto harmonischer? Das würde nur Sinn dann machen, wenn man das Wort "Harmonie" von einer indogermanischen Sprache abgeleitet als Beschreiber einsetzen wollte. Dann könnte Harmonie etwa "Vereinigung von Gegengesetztem zu einem Ganzen" bedeuten und würde den Einsatz des Harmonie-Schemas von Bongartz und Oberg erklären und rechtfertigen. Bedient man sich allerdings des altgriechischen Wortes "ἁρμονία" als Herkunft und Erklärung des von uns heutzutage relativ häufig verwendeten Begriffs "Harmonie", stellen wir fest, dass ebensolches Wort "Ebenmass" bedeutet, wodurch Bongartz und Obergs "Harmonie-Parameter" die Öle nach Einklang der wahrnehmbaren sensorischen Charakteristiken beschreiben würde. Je höher der Einklang der Charakteristiken, desto besser das Öl. Beschreiber sollten deshalb mit höchster Vorsicht und exakt gewählt werden, da bei Nichtbeachtung dieses Grundsatzes Missverständnisse die Folge sein können, deren Fortlauf oftmals ungünstige Konsequenzen für den Verbraucher haben.
Meiner Auffassung nach, die ich mit Professor Claudio Peri und der Lebensmitteltechnologin und Olivensensorikexpertin Sophia Amariotaki Streich teile, bedeutet ein wahrnehmbares vielschichtigeres Aromenspektrum beim Olivenöl nicht automatisch, dass das Olivenöl insgesamt harmonischer ist. Viel mehr ist es dann komplexer. Auch von vielschichtiger könnte die Rede sein. "Harmonisch" ist, wie oben bei der Worterklärung von "Harmonie" bereits angedeutet, dann etwas , wenn die beschreibenden Eigenschaften des Produktes ausbalanciert zuienander stehen. Von keinem zu viel, von keinem zu wenig. Die Wortbedeutung von Harmonie nach Duden ist nämlich die folgende: (Musik) wohltönender Zusammenklang mehrerer Töne oder Akkorde; ausgewogenes, ausgeglichenes Verhältnis von Teilen zueinander; Ausgewogenheit, Ebenmaß; innere und äußere Übereinstimmung; Einklang, Eintracht.
Das PAR-System bewertet die Balance bei Weinen
Ein guter Freund und ausgesprochener Weinexperte, René Blanco Müller (Weinexperte, Wein-Consultant und ehem. Chef-Sommelier des Grand Resort Bad Ragaz) hat mich im Zusammenhang mit der "Harmonie-Diskussion" beim Olivenöl neulich auf das PAR-System des Oenologen, Winzers und Weinsensorikers Martin Darting aus Deutschland angesprochen. Darting verwendet bei der sensorischen Weinanalyse die "Balance" als letzten Prüfparameter. Obwohl ich absolut kein Weinexperte bin, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass es gerechtfertigt ist, beim Wein die Balance zu bewerten und folglich höher ausfallende Balance-Bewertungen in einem besseren Gesamtergebnis resultieren zu lassen. Denn, Wein trinkt man. Vom Glas in den Mund. Olivenöl hingegen nicht. Nur beim Verkosten wird das so gemacht. Genossen wird das Olivenöl - mit der Ausnahme von ein paar Verrückten, zu denen ich mich dazuzähle - immer in Kombination mit einer Speise. Für viele Menschen beschränkt sich das Anwendungsgebiet von Olivenöl auf den Salat. Einige andere aber geben einen Schuss Olivenöl fast ausnahmslos über jedes Gericht und spüren dabei, dass das immer gleiche Öle nicht über jeder Speise gleich gut schmeckt. Oder besser, dass das Öl zwar immer das gleiche ist, es aber nicht zu jeder Speise gleich gut passt, um wieder den Bogen zum Wein und zum PAR-System von Darting zu spannen, der zu diesem Zweck übrigens auch Wein-Food-Pairing-Kurse anbietet.
Der Duft nach Tomate, welchen wir beispielsweise in Olivenölen, gewonnen aus sizilianischen Olivensorten, feststellen können, ist unter anderem auf das Keton 1-Penten-3-one zurückzuführen. Man kann diese chemische Verbindung nicht mittels Sensorik qualitativ beurteilen. Nur quantitativ.
Darting quantifiziert in einer ersten Bewertungstabelle die entsprechenden Attribute - etwa fruchtig oder würzig - auf einer Skala von 1 bis 10. Je fruchtiger der Wein, desto höher die erzielte Punktzahl. In einer zweiten Bewertungstabelle notiert er mit dem selben Punktesystem von 1 bis 10 für die wiederum gleichen Attribute seine qualitative Einschätzung. Im unten gezeigten Beispiel verfügt der von Darting analysierte Wein über eine wahrnehmbare Fruchtigkeit von sieben Punkten, währen die Qualität dieser wahrnehmbaren Fruchtigkeit allerdings mit acht von zehn Punkten angegeben wird. Mit Bezug auf den Prüfparameter "Balance" bedarf die Feststellung, dass die quantitative Einschätzung der wahrnehmbaren Attribute teilweise recht unterschiedlich hohe Ausprägungen haben und die "Balance" desselben Weines trotzdem mit neun von zehn Punkten angegeben wird, einer näheren Betrachtungsweise. Zu viele Phenole und Tannine könnten (konjunktiv, da im vorliegenden Fall lediglich mit drei von zehn möglichen Punkten bewertet) dazu führen, dass der Wein weniger Trinkgenuss böte (was lediglich eine Vermutung ist). Balance beim Wein könnte für Darting einfach ausgedrückt demnach bedeuten: Von allen Komponenten gerade so viel, dass ein harmonischer Gesamteindruck entsteht.
Obwohl ich das PAR-System nicht näher kenne und möglicherweise nicht voll dahinter blicke, finde ich es ein sehr interessantes und zugleich komplexes Bewertungssystem. Dennoch kann man es in der vorliegenden Form für Olivenölbewertungen nicht einsetzen. Ein bestimmtes positives Aroma zu quantifizieren geht in jedem Fall, es allerdings weiter zu qualifizieren, wird sehr schwierig. Der Duft nach Tomate, welchen wir beispielsweise in Olivenölen, gewonnen aus sizilianischen Olivensorten, feststellen können, ist unter anderem auf das Keton 1-Penten-3-one zurückzuführen. Es ist nun schlicht nicht möglich, die Qualität dieser chemischen Verbindung, dieses Moleküls mit der olfaktorischen und retronasalen Sensorik ein- oder abzustufen. Man kann aber sehr wohl feststellen, wie fest man den Tomatenduft oder -geschmack riechen oder schmecken kann (und folglich auch, wie häufig die dafür verantwortliche chemische Verbindung im Olivenöl vorkommt), weshalb lediglich eine Quantifizierung desselben Attributs möglich ist. 1 für schwach wahrnehmbar; 10 für äusserst ausgeprägt wahrnehmbar. Mehr braucht man nicht.
Was das Gesetz zum Attribut "ausgewogen" sagt
Natürlich gibt es Olivenöle, deren positive Attribute in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen, so dass wir das Öl insgesamt als harmonisch wahrnehmen. Und selbstverständlich gibt es dafür auch etliche Anwendungsgebiete, in welchen sich ausbalancierte Öle, die eine gewisse Kombination von verschiedenen positiven Attributen aufweisen, besonders gut machen. Die EU hat die Verwendung des Beschreibers "ausgewogen" in ihrer Durchführungsverordnung (EU) 2016/1227 vom 27. Juli 2016 wie folgt geregelt: «Ausgewogen ist ein Öl, das nicht unausgewogen ist. Ausgewogenheit bezeichnet den olfaktorisch-gustatorischen und taktilen Sinneseindruck bei einem Öl, in dem der Median des Attributs "bitter" und der des Attributs "scharf‘"nicht mehr als zwei Punkte größer ist als der Median des Attributs "fruchtig". »
Ein Olivenöl mit Fruchtigkeit 5.2, Bitterkeit 4.2 und Schärfe 5.9 ist demnach ausgewogen. Ebenso dürfte man die Olivenöle mit folgenden Attributen gemäss Gesetz als ausgewogen bezeichnen:
Fruchtigkeit 6.9; Bitterkeit 6.8; Schärfe 6.9
Fruchtigkeit 6.8; Bitterkeit 1.7; Schärfe 6.4
Fruchtigkeit 1.5; Bitterkeit 2.5; Schärfe 3.0
Fruchtigkeit 1.0; Bitterkeit 1.0; Schärfe 1.0
Die letzeren beiden Olivenöle dürften aufgrund ihrer sehr tiefen Fruchtigkeit und dem geringen Phenolwert (Bitterkeit und Schärfe) rein hypothetisch äusserst schlecht und wohl auch fehlerhaft sein - und dies obwohl sie an und für sich gemäss aktuellem EU-Gesetz als harmonisch gelten würden. Im Gegensatz dazu wäre ein Olivenöl mit 6.0 Fruchtigkeit, 8.1 Bitterkeit und 8.5 Schärfe unausgewogen, obwohl wahrscheinlich qualitativ äusserst hochwertig. Bei diesem hochpotenten, weil extrem bitteren und scharfen Stoff bedarf es allerdings einer Anleitung, wie man ihn am besten verwendet, auf welchem Gericht er sich am nützlichsten macht. Denn, ohne Zweifel, sein Anwendungsgebiet ist reduziert, einen delikaten Süsswasserfisch oder ein Pfirsich-Carpaccio würde er deutlich übertönen, auch nur schon in geringen Mengen verwendet. Hervorragend würde sich das krasse Öl aber in einem feurigen Eintopf mit Bohnen und geräuchtem Paprikapulver, auf einem Lammrack oder auf einer Kugel Vanille-Eis machen. Ein geniales Olivenöl also, vorausgesetzt, man findet das richtige Gericht dazu.
Es fällt auf, dass sich die Verkostungsleitlinien und die Verkostungsformulare vieler Wettbewerbe sehr stark ähneln oder gar gänzlich gleich sind, was wiederum bedeutet, dass die Wertigkeit einiger Wettbewerbe in Frage gestellt werden sollte.
Harmonieflut in Wettbewerben
Harmonisch gelten bisweilen auch Olivenöle, die trotz erkennbaren sensorischen Fehlern an internationalen Wettbewerben Preise gewinnen. Beispiele dafür gäbe es etliche, nennen wollen tue ich sie an dieser Stelle aber lieber nicht. Es wurde "Fashion", dass man der Harmonie an zahlreichen bekannten Ausscheidungen eine grotesk höhere Gewichtung gibt, als man das beispielsweise für die Fruchtigkeit, die Bitterkeit, die Schärfe, die Komplexität oder die Klarheit eines Olivenöls tut, wie die unten gezeigten Bilder beweisen. So gibt es bei der olfaktorischen Beurteilung für die "Olivenfruchtigkeit", wonach ein Olivenöl üblicherweise riechen soll - übrigens je stärker, desto besser -, lediglich sieben Punkte, während es für die Harmonie ganze 20 Punkte zu verteilen gibt. Für das im Bildverlauf zuerst angezeigte Muster ermittelte der entsprechende Juror und Verkoster in der olfaktorischen Beurteilung ein Total von 28 Punkten, wovon alleine 18 von der Harmonie beigesteuert wurden. 64 % der in dieser Kategorie erreichten Punkte erzielte das Ölmuster demnach alleine durch eine angeblich sehr hohe Harmonie. Zählt man die über alle sensorischen Kategorien erzielten Punkte zusammen, staunt man nicht schlecht: Dieses Öl erhielt 86 von 100 möglichen Punkten und wurde mit einer Goldmedaille (ab 84 Punkten) prämiert. Das ist deshalb fragwürdig, weil der Verkoster im obersten Teil des Testblattes die nicht in die Endwertung mit aufgenommene Kalibrierung vornahm, das Öl mit einer Fruchtigkeit von 5, einer Bitterkeit von 3 und einer Schärfe von 4 bewertete, was auf ein eher unterdurchschnittliches Produkt mit wenig phenolischen Verbindungen hinweist.
Der Harmonie-Parameter macht die Fruchtigkeit und die anderen positiven, mit der Nase zu ermittelnden Attribute tatsächlich zur Nebensächlichkeit. Und es fällt auf, dass sich die Verkostungsleitlinien und die Verkostungsformulare vieler Wettbewerbe sehr stark ähneln oder gar gänzlich gleich sind, was wiederum bedeutet, dass die Wertigkeit einiger Wettbewerbe in Frage gestellt werden sollte. Kommt erschwerend hinzu, dass die immer gleichen Verkoster und Jurymitglieder bei etlichen unterschiedlichen Wettbewerben mit von der Partie sind und es deshalb kaum erstaunt, dass auch immer die gleichen Öle - egal wo - in die Ränge kommen. Nicht zuletzt bleibt zu sagen, dass solche Wettbewerbe auch immer eine Sache des Kommerzes sind. Man verdient an 300 Mustern à 200 Euro ordentlich Geld. Auch das ist "Fashion", dient aber der eigentlichen Sache sehr wenig.
Wenn Olivenöl auf ein Gericht (Protein, Salz, Stärke, Fett) trifft, passiert eine bio-chemische Veränderung, das sollte uns bewusst sein.
Es bleibt zu erkennen, dass sowohl die Harmonie-Werte, wie sie die New York International Olive Oil Competition und andere internationale Wettbewerbe sowie der International Olive Oil Award in Zürich unter der Leitung von Annette Bongartz in ihrer jeweiligen Eigenheit anwenden, als auch die von der EU festgelegte fakultative Terminologie "ausgewogen" einem Missverständnis erliegen. Keiner dieser Beschreiber lässt verwertbare und sinnvolle Rückschlüsse auf die effektive Qualität eines Olivenöls zu. Kein Harmonie-Wert sagt, zu welcher Art Gericht ein Olivenöl passen könnte. Und auf das käme es schlussendlich doch an, auf die Verpaarung von Olivenölen unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Performance mit dem jeweiligen Gericht. Wenn Olivenöl auf ein Gericht (Protein, Salz, Stärke, Fett) trifft, passiert eine bio-chemische Veränderung, das sollte uns bewusst sein.
«[..] it makes you realise that there is chemistry in pairing that is not clear to us and which can be discovered only through experiment.» - Johnny Madge, Panel Judge
So meinte ein guter Englischer Freund, Johnny Madge, der in Italien lebt, dort Olivenöltouren anbietet und ganz nebenbei ein hervorragender Verkoster ist, zur Harmonie-Diskussion: «One would hope (just as with very tannic wines) that the judges can imagine just how spectacular a massive coratina would be with a hot steak or a hot Pugliese fava bean and potato soup but it may be true (if unlikely) that not all competition judges are enthusiastic eaters and experimenters with food. I came home with an avocado the other day which I cut into 7 pieces and tried 7 different oils on. I had a hunch which oils would be good and which mediocre and although most of the time I was right I was not always right which makes you realise that there is chemistry in pairing that is not clear to us and which can be discovered only through experiment. Some of us feel that competitions are giving prizes only to the big oils which are highly aromatic, bitter and pungent and I personally feel that the part in the tasting sheets about bitterness needs to be changed. I have (of the 220 oils sent to me last autumn) about 85% bitter and pungent oils and sometimes, when I want to make a mayonnaise, pesto or when I want to dress something which is very bitter (and COLD - this is a VERY important distinction) I would prefer to have more choice of less bitter oils.»
Maria Paola Gabusi, die Organisatorin und Panelleaderin des prestigeträchtigen Leone d'Oro Awards, mahnte mit erhobenem Finger: «Silvan, die Welt ist nicht perfekt. Die organoleptische Analyse ist nicht perfekt und die Verkoster sind es ebenso wenig. Ob ein Harmonie-Parameter in einem Wettbewerb eine Rolle spielt, entscheidet der Wettbewerbsdirektor. Man kann nicht per se sagen, dass der Einsatz des Harmonie-Parameters schlecht ist.»
Ein Olivenöl mit 72 von 100 Punkten kann unter Umständen das beste sein
Ich selber mag die harmonischen Olivenöle auch. Zu bestimmten Zwecken. Ebenso mag ich aber auch die anderen, die unharmonischen und richtig krachenden Prachtsexemplare. Generell suchen wir bei evoo mehrheitlich nach grünen Tönen im Olivenöl, weil wir dem gesundheitlichen Aspekt eine entscheidende Rolle zuteilen. Es ist ein wissenschaftlich tausendfach überprüfter Fakt, dass perfekt produzierte grüne Öle mehr für unsere Gesundheit vorteilhafte sekundäre Pflanzenstoffe, resp. Derivate davon beinhalten. Etwa Oleuropein Aglycon, Oleacin, Ligstrosid, Oleocanthal, Tyrosol, Hydroxytyrosol und wie sie alle noch heissen. In reif anmutenden Ölen sind diese Stoffe weitaus weniger vorhanden. Das reife Öl hat also nicht den gleichen gesundheitlichen Wert. Reife Öle sind also nicht so unser Ding, obwohl diese natürlich harmonisch und bisweilen auch fehlerfrei sein können. Und nicht zuletzt auch zu einigen Gerichten sehr gut passen. Beispielsweise zu Carpaccio von der Tonda di Chioggia. Allerdings ist die Lagerung solcher Öle auch viel schwieriger und sie sind entsprechend kurzlebiger, werden schneller schlecht. Für die Basisöle der Gastronomie, wo die Preise natürlich eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle spielen, arbeiten wir mit einem zurückhaltend bitteren Olivenöl aus Arbequina- und Picual-Oliven. Picual gibt die Struktur und das Rückgrat. Arbequina füllt den Körper aus. So schaffen wir es, ein relativ leichtes, Basis gebendes Olivenöl an die Gastronomen abzugeben, das diese für alle Gerichte einsetzen können, ohne dass das Olivenöl Gerichte störend verändern könnte, was mit Johnnys Coratina unweigerlich passieren würde. Dieses Olivenöl würde auf unserem Verkostungsblatt bloss auf 72 Punkte kommen, wäre folglich aus sensorik-wettbewerbstechnischer Sicht nicht annähernd unter den Besten. Und trotzdem, für den vorgesehenen Anwendungszweck gibt es kein Öl, das besser sein könnte. Punkte sind teilweise also tatsächlich zweitrangig. Diesen Umstand berücksichtigen die Panels und Wettbewerbe leider viel zu selten.
Den Harmonie- und Balance-Parameter sucht man in unserem Bewertungsblatt aus besagten Gründen hingegen vergebens. Wir sind uns zudem bewusst, dass das Verkostungsresultat, welches sich auf dem Blatt abbildet, nur einen Hinweis darauf liefert, mit welchen Gerichten sich das Öl am besten verpaaren lassen könnte. Oftmals sind diese Vorahnungen richtig, teilweise aber auch kreuzfalsch. Johnny Madge dürfte sich geehrt fühlen.
Nicht alles braucht Harmonie. Ich habe zwar neulich gelesen, dass auch beim Kaviar "Balance" gewünscht ist, wobei ich auch hier glaube, dass man den Sinn dieses Condiments, was Kaviar zweifelsohne ist, missversteht. Hin und wieder sind wir der Harmonie überdrüssig und lieben die extremen Interpretationen oder Ausführungen. Für Letzteres ist gerade die Natur bekanntester Lieferant. So kann für manche ein völlig übersüsster Cupcake hin und wieder genauso befriedigend sein, wie es für andere das Curry mit der Carolina-Reaper Chilischote ist. Harmonisch ist mit Sicherheit aber keines von Beidem, am wenigsten sind es die Zutaten, die man für solche Gerichte verwendet. Sie sind im Fall von Zucker sehr süss (unharmonisch, weil zu süss??) oder sehr scharf im Fall der Chilischote. Sie sind klassische Würzmittel, die in purer Form eingenommen immer extrem sind.
Der Olivenölvielfalt würde etwas weniger Harmoniestreben auf jeden Fall sehr gut tun und es würde womöglich helfen, das Olivenöl aus der Fettecke zu holen und als Würzmittel zu verstehen, wie Conrad Bölicke jeweils zu sagen pflegt. Zum Schluss würde das auch dazu führen, dass die Konsumenten mehr für das Olivenöl zu bezahlen bereit sind, weil man gute Würzmittel sehr sparsam einsetzen kann. Mensch, was für tolle Aussichten.
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