200'000 Tonnen Geister-Öl aus Tunesien: Jetzt schlagen auch Spaniens Bauern Alarm
- Silvan Brun
- vor 2 Tagen
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Erst Italien, jetzt Spanien. Nach der türkischen Ölschwemme warnt nun der spanische Bauernverband vor massivem Betrug. Wo landen die 200.000 Tonnen Öl, die niemand auf dem Etikett sehen will?
Ende Oktober 2025 hatten wir an dieser Stelle bereits die Situation in Italien beleuchtet, wo massiv gestiegene Importe aus Drittländern – insbesondere aus der Türkei – auf einen sensiblen Binnenmarkt trafen. Nun melden sich auch die spanischen Erzeuger zu Wort. Die Coordinadora de Organizaciones de Agricultores y Ganaderos (COAG) hat sich Ende November an die spanischen und europäischen Behörden gewandt, um auf Unregelmäßigkeiten im Handel mit tunesischem Olivenöl hinzuweisen.
Die Parallelen zur Situation in Italien sind unübersehbar: Es geht um Diskrepanzen zwischen Importmengen und verfügbaren Endprodukten im Regal sowie um den Verdacht des Etikettenschwindels in Bezug auf die Herkunft des Olivenöls.
Die Diskrepanz der Mengen: Das Phänomen des "Geisteröls"
Der Kern der Kritik der COAG richtet sich gegen das sogenannte "Geisteröl" ("aceite fantasma"). Hintergrund sind die Handelsabkommen der EU mit Tunesien, die ein zollfreies Kontingent von 56.700 Tonnen pro Jahr vorsehen.
Aktuelle Daten deuten jedoch darauf hin, dass die realen Einfuhren weit über dieser Quote liegen. COAG spricht von rund 200'000 Tonnen, die in den EU-Markt gelangt sind, wobei knapp 100'000 Tonnen auf Spanien entfallen. Francisco Elvira, Generalsekretär von COAG Jaén, formuliert das Problem nüchtern analytisch:
«Wir haben ein zollfreies Kontingent von rund 57'000 Tonnen. Wenn jedoch fast 100'000 Tonnen allein nach Spanien gelangen, stellt sich die Frage: Wo verbleibt diese Menge? Da Spanien einer der Hauptabnehmer ist, müsste dieses Öl in den Regalen sichtbar sein. Da es dort kaum als tunesisches Produkt ausgewiesen wird, müssen wir fragen, wie und unter welchem Label es vermarktet wird.»
Die Befürchtung der Verbände ist, dass diese Mengen ohne ausreichende Transparenz in den europäischen Warenstrom diffundieren – sei es durch Vermischung oder Umetikettierung. Unter uns Königskindern: Das ist nichts Neues, sondern vielmehr gängige Praxis mit Duldung der lahmen Behörden.
Die Warnungen sind alles andere als abstrakt: Während die sanischen und italienischen Verbände strukturelle Lücken anprangern, konkretisieren aktuelle Recherchen des italienischen Fachjournalisten Alberto Grimelli (Teatro Naturale) den Verdacht auf Marktmanipulationen durch große Akteure.
Im Fokus steht hier der spanische Riese Borges International Group und dessen Geschäftsbeziehungen zur tunesischen Bioliva Med Company. Grimelli berichtet auf Teatro Naturale von Dokumenten, die nahelegen, dass Borges trotz gegenteiliger Beteuerungen weiterhin Geschäftsbeziehungen zum Umfeld von Bioliva unterhielt – einem Unternehmen, dessen Inhaber Adel Ben Romdhane nach einem Finanzkollaps von rund 180 Millionen Euro flüchtig sein soll.
Die Vorwürfe wiegen schwer und gehen über reine Marktmechanik hinaus:
Fragwürdige Beschaffung: Grimelli verweist auf "Letters of Intent" und Frachtbriefe, die darauf hindeuten, dass tunesisches Öl auch nach dem Zusammenbruch von Bioliva weiter an Borges geliefert wurde.
Ethische Bedenken: Tunesische Bauern und Ölmüller sollen auf unbezahlten Rechnungen in Millionenhöhe sitzen geblieben sein, während die Ware zu spottbilligen Preisen, welche die tunesische Landwirtschaft entehren, nach Europa verschifft wurde.
Preisdruck: Große Importmengen zu Preisen weit unter Marktwert (genannt werden teils unter 2.80 €/kg für Rohware) destabilisieren das europäische Preisgefüge massiv.
Der Fall Borges ist so etwas wie eine Blaupause dafür, wie Intransparenz in der Lieferkette genutzt werden kann, um billiges Öl in den Markt zu drücken, während die Bauern immer das Nachsehen haben.
Strukturelle Ungleichgewichte im Wettbewerb
Das Problem sind vor allem die unterschiedlichen Regularien, die für EU-Produzenten und für Importware gelten. Während spanische und italienische Erzeuger einem vergleichsweise engmaschigen Netz aus Kontrollen, Zertifizierungen und mehr oder wenigen strengen Rückverfolgbarkeitspflichten unterliegen, scheint dieses System bei der Einfuhr aus Drittländern frappante Lücken aufzuweisen.
Dies führt laut der spanischen COAG zu einer doppelten Problematik. Einerseits kommt es zur Marktverzerrung, da die Importware das Preisniveau für die heimischen Erzeuger drückt und andererseits schafft das Modell Intransparenz und Täuschung für Verbraucher, wenn Öl aus Tunesien importiert, aber nicht als solches gekennzeichnet wird.
Wiederholung des "Veredelungs-Schemas"?
Bereits in unserem Artikel vom 31. Oktober 2025 wiesen wir auf das "aktive Veredelungsverfahren" hin, das im Zusammenhang mit türkischen Importen in Italien eine Rolle spielte. Auch im aktuellen spanischen Kontext warnt die COAG vor diesem Mechanismus.
Dieses Verfahren erlaubt den zollfreien Import von Rohware zur Weiterverarbeitung und anschließendem Wieder-Export. In der Praxis besteht jedoch das Risiko, dass diese Öle – lediglich minimal bearbeitet (z.B. lediglich gefiltert oder mit spanischem Öl geblendet) – im Binnenmarkt verbleiben oder als europäisches Erzeugnis deklariert werden. COAG fordert daher eine Aussetzung dieser Zollager- und Veredelungs-Systeme, bis eine lückenlose Kontrolle der Warenströme gewährleistet ist. Mit anderen Worten heisst das: Aktuell ist die Rückverfolgbarkeit dieser Warenströme eben nicht gewährleistet.
Die Forderungen der Produzenten
Die spanischen Verbände drängen auf konkrete Maßnahmen der EU-Kommission und der nationalen Behörden: Sie verlangen die Aussetzung der Vorzugszölle für Öl aus Tunesien, bis die Rückverfolgbarkeit jener der EU-Standards entspricht, fordern sie eine Intensivierung der Kontrollen in den Hauptumschlagsplätzen, insbesondere in Andalusien, um "Triangulationsgeschäfte" (Umleitung über Drittländer oder Verschleierung der Herkunft) aufzudecken. Und abschliessend wünschen sie eine Überprüfung der Mengenströme durch die Wettbewerbsbehörden.
Tunesisches Olivenöl als EU-Ware deklariert auf unseren Tischen
Damit man diese schiere Menge von 200'000 tunesischem Olivenöl versteht, müssen wir sie ins richtige Verhältnis setzen. Sie entspricht fast 87 olympischen Schwimmbecken und man könnte mit diesem Vorrat die Schweiz – bei aktuellem Bevölkerungsstand und Pro-Kopf-Konsum während 12 Jahren versorgen.
Deshalb gilt: Solange nicht geklärt ist, wohin die 200'000 Tonnen Olivenöl aus Tunesien gingen, werden wir in Unwissenheit stetig von diesem Öl kosten. Das Verschleierungssystem ist einfach perfekt.
